Kolumne
«Mein Bild»: Wenn der Beobachter beobachtet wird

Chiara Zgraggen
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Ein Zuschauer beobachtet das Geschehen am internationalen Pferderennen. (Bild: Christian Merz, Maienfeld/Bad Ragaz, 1. Oktober 2018)

Ein Zuschauer beobachtet das Geschehen am internationalen Pferderennen. (Bild: Christian Merz, Maienfeld/Bad Ragaz, 1. Oktober 2018)

Dieser Zuschauer steht auf dem Beobachterposten am internationalen Pferderennen in Maienfeld/Bad Ragaz. Was er wohl nicht registriert: Er wird ebenfalls beobachtet – vom Fotografen Christian Merz.

Kürzlich sah auch ich mich in der Position des Beobachters von Beobachtern. Auf meinen Bus wartend, stand ich an der Haltestelle des Bahnhofs Luzern. Mit noch etwas Biergeschmack auf der Zunge (es war Sonntagmorgen) schweifte mein Blick über den Bahnhofsplatz. Vor mir: Kinder, die von ihren Müttern hinterhergeschleift werden. Ältere Eheleute mit ihren Einkäufen und junge Männer, die offenbar ihren Heimweg von einer durchzechten Nacht angetreten haben.

Nun richten sich meine Augen auf einen Mann auf einer Sitzbank zu meiner Linken. Nicht nur seine ausgeprägte Apathie überraschte mich, sondern auch die zwei Polizisten, die ihn zu bewachen schien. Ich dachte nicht weiter darüber nach und verfolgte das Geschehen auf der Strasse.

Plötzlich erklang in der Ferne eine Sirene. Es wurde mir bewusst: Der Mann auf der Bank schläft nicht einfach seinen Rausch aus, sondern schwebt offenbar in Lebensgefahr.

Als die Retter tatsächlich vor dem Mann hielten, begann eine unglaubliche Szene. Die Menschen standen mit offenen Mündern da, Kinder rannten heran, um das Geschehen von Nahem zu sehen. Die Situation widerte mich an. Wie sie sich am Antlitz des womöglich Sterbenden ergötzten und mit ihrem Blick respektlos die Privatsphäre des Mannes verletzten.

Dann rollte mein Bus an. Auch nach dem Einsteigen war die Szene noch nicht vorüber. Immer noch versuchten die Rettungskräfte, unter den Blicken der Menschen einem anderen womöglich das Leben zu retten. Die Gaffer setzten sich allesamt auf die linke Seite im Bus, um dem Schauspiel von den besten Plätzen aus weiter zu frönen. Sie sahen aus wie der Mann auf dem Bild nebenan – mit starrem Blick auf das Geschehnis. Gebannt, was noch alles passieren wird. Doch dann fuhr der Bus los und die Menschen sprachen wieder über ihren Alltag.