Das Luzerner Hinterland war im 19. Jahrhundert eine Tanzhochburg. Jetzt wurden alte Noten entdeckt. Die Musik soll nun zur Aufführung gebracht werden.
Pirmin Bossart
In der Volksmusikforschung wird die Zentralschweiz als eine Hochburg der bäuerischen Volksmusik im 19. Jahrhundert bezeichnet. Doch das Luzerner Hinterland hat diesbezüglich wenig Spuren hinterlassen. In der berühmten Volksmusiksammlung von Hanny Christen (1899–1976) mit ihren über 12 000 Melodien ist das Entlebuch prominent, Willisau aber nur sehr rudimentär vertreten.
Aber nun wird auch diese Region die Landkarte der schweizerischen Volksmusik bereichern: Im Archiv der Heimatvereinigung des Wiggertals sind die Notenbücher der «Husistein-Musik» aus Ettiswil entdeckt worden, der damals bekanntesten Tanzmusikformation im Luzerner Hinterland. Es handelt sich um drei Notenbücher mit über 200 Tänzen.
«Es ist ein sensationeller Fund», sagt die Entlebucher Komponistin und Arrangeurin Evi Güdel-Tanner. Sie hat im Auftrag der Musikinstrumentensammlung Willisau mit der Aufarbeitung des Materials begonnen. Und – damit man die Tänze hören kann – gleich eine «Husistein-Musik» ins Leben gerufen. Die zwei Notenbücher für Geige und C-Klarinette umfassen 147 Stücke, die keinem Komponisten zugeschrieben sind. Im dritten Buch finden sich 50 mehr oder weniger bekannte Stücke, etwa aus Operetten. Bei den rund 150 unbekannten Tanzstücken handelt es sich um Walzer, Galopp, Polka, Schottisch und Mazurka. «Immer mal wieder hört man Versatzstücke von Volksmusikmelodien heraus. Auch Einflüsse der Salonmusik des 19. Jahrhunderts oder des Wiener Walzers sind auszumachen.»
Die Musikerin ist von der Qualität der Sammlung begeistert. Nicht nur seien die Stücke in säuberlicher und perfekt lesbarer Notenschrift festgehalten. «Mit ihrer Vielfalt an süffigen Melodien und einer raffinierten Harmonik, in der auch Moll-Passagen vorkommen, sind die Stücke auch musikalisch von hoher Güte. Sie verleiden einem nicht.» Sie arrangiere viele Kompositionen im Bereich der Volksmusik, sagt Güdel-Tanner. «Aber diese Sammlung erscheint mir musikalisch besonders farbig und reichhaltig zu sein. Das hat Fleisch am Knochen.»
Er habe sich schon länger erhofft, irgendwelche Spuren über das Tanzwesen im Luzerner Hinterland zu finden, sagt Adrian Steger. «Jetzt bin ich selber überrascht.» Der Leiter der 2003 eröffneten Musikinstrumentensammlung Willisau hatte sich schon früh für Ins-trumentenbauer im Luzerner Hinterland interessiert. Bei dieser Gelegenheit stiess er auf den Willisauer Schreiner und Geigenbauer Jakob Steger (1849–1923). «Er baute Geigen, die offenbar vor allem für die Tanzmusik verwendet wurden.»
Seitdem hat Steger immer wieder recherchiert, um mehr über diese Tanzkultur herauszufinden. Aber es lassen sich bis heute kaum schriftliche Zeugnisse darüber finden. «Tanzen war ein Vergnügen. Es gehörte zum Alltag, war aber auch mit Ausschweifung und Sinnesfreude verbunden. Das Thema wurde nicht als würdig erachtet, festgehalten zu werden.» Der Fund bestätige nun, dass die Tanzmusik im Luzerner Hinterland des 19. Jahrhunderts eben doch eine wichtige Rolle gespielt habe.
Davon berichtet ein Artikel, der 1923 im Luzerner Hauskalender erschien. «Diese Tanzmusikgesellschaften entwickelten von 1840–1890 eine ungemein rührige Tätigkeit für schönes und gefälliges Konzert- und Tanzmusikspiel», heisst es darin, und: «Die Jugend verlangte nach freiheitlicher, geselliger Unterhaltung.» Das Tanzen war jedoch ein seltenes Vergnügen. «Für ein privates Fest musste eine teure Bewilligung eingeholt werden», sagt Steger.
Gemäss den spärlichen Quellen gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Luzerner Hinterland mehrere «Tanzmusikgesellschaften». Die Husistein-Musik der Gebrüder Husistein aus Ettiswil, deren Notenmaterial jetzt aufgetaucht ist, zählte zu den bekanntesten Formationen. Sie hatten auch Auftritte im Bernbiet oder im Aargau und sollen mal drei Tage an der Basler Fasnacht gespielt haben. Die Musikanten in den Kapellen waren Bauern und Gewerbeleute.
Die Besetzung dieser Formationen bestand aus zwei Geigen, Klarinette, Flügelhorn und Kontrabass. Solche mit Bläsern erweiterte Streichkapellen, die zum Tanz aufspielten, waren im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. Zu ihnen gehörten auch die Sagenmattler aus Unterägeri ZG (1840–1887), von denen Tänze als fünfstimmige Arrangements überliefert sind.
Nachdem die Sagenmattler von Musikern des Tonhalle-Orchesters Zürich vor ein paar Jahren wiederbelebt wurden, kommt nun auch die Husistein-Musik wieder zu Ehren. Evi Güdel-Tanner hat das Notenmaterial gesichtet, 26 Stücke arrangiert und mit Andri Mischol (Violine), Rita Rohrer (Violine), Armin Müller (Klarinette) und Lukas Erni (Flügelhorn) eine neue Husistein-Musik ins Leben gerufen. Sie selber spielt Fagott. «Damit kann ich sowohl die Bassstimme wie die Begleitung machen.»
Güdel-Tanner hat schon als 12-Jährige mit der Klarinette die Kindertanzgruppe in Flühli LU begleitet und hat sich später am Konservatorium Luzern zur Blasmusikdirigentin ausbilden lassen. Seit 1999 widmet sie sich ausschliesslich dem Komponieren und Arrangieren. Mit ihrer Erfahrung hat sie die Husistein-Stücke fertig instrumentiert. «Als ich die Noten gesehen habe, war mir völlig klar, was ich mache.» Sie habe versucht, die Stücke vielfältig zu arrangieren. «Aber ich habe auf Experimente verzichtet. Ich wollte, dass es möglichst natürlich klingt.»
Am eindrücklichsten sei, wie nah und vertraut diese Musik auf sie wirke, sagt Evi Güdel-Tanner. Das sei nicht die Ländlermusik, wie wir sie heute kennen. «Als ich begonnen habe, die ersten Stücke zu spielen, ist es mir sofort warm ums Herz geworden. Es war wie ein Heimkommen.» Auch ihren Musikerkollegen sei es gleich ergangen, der Funken sei sofort übergesprungen. «Das ist unsere Musik!»
Hinweis
Konzert: 27. März, 19.30, Musikinstrumentensammlung, Am Viehmarkt 1, Willisau