Die Entlebucher Alpabfahrt ist in den vergangenen Jahren zum Grossanlass geworden. Die Besucher bekamen ein urchiges Rahmenprogramm geboten, die Älpler überzeugten mit prachtvoll geschmückten Tieren – und mit Pünktlichkeit.
Manche konnten es kaum erwarten, nach Schüpfheim zu kommen. Anders lässt sich der penetrant drängelnde und abenteuerlich überholende Skoda Octavia nur schwer erklären. Immerhin: In der Autokolonne von Wolhusen ins Entlebuch hinein machte er einige Plätze gut und schaffte es schliesslich, rund 20 Sekunden vor dem Schreibenden auf den Parkplatz in Schüpfheim einzubiegen. Das Zürcher Nummernschild bestätigte einerseits eines unserer lieb gewonnenen Vorurteile, machte andererseits aber auch eine wichtige Aussage: Schüpfheim ist an diesem Samstag nicht Schauplatz irgendeiner weiteren Chilbi, sondern eines Volksfestes mit interregionaler Ausstrahlung: Die Entlebucher Älpler und ihre Tiere ziehen zurück in ihr Winterquartier, und über zehntausend Besucher sind gekommen, um sie im Tal willkommen zu heissen.
Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Einzugs ist zwischen den Marktständen, welche die ganze Bandbreite der regionalen Produktion feilbieten, kaum mehr ein Durchkommen möglich. Dicht an dicht warten die Leute, während die Nachströmenden jede kleine Lücke füllen. Während die Besucher sich entspannt mit einem Kaffee auf den Tag einstimmen, herrscht hinter den Kulissen Anspannung. Ein Gespräch mit OK-Präsident Bruno Hafner ist nur unter erschwerten Umständen möglich. Alle paar Sekunden heischt sein umgehängtes Funkgerät Aufmerksamkeit. Denn die Alpabfahrt ist nicht bloss eine Kolonne von Kühen, sondern ein zweistündiger Umzug mit Blasmusik, Trachtengruppen, Jodlerchören und Alphornbläsern.
Die Tiere starteten am frühen Morgen auf ihren jeweiligen Alpen. Nun geht es darum, die einzelnen Darbietungen in Echtzeit zu koordinieren, sie auf die Strecke zu schicken und dann, wenn eine Älplerfamilie in Schüpfheim eintrifft, den Weg frei zu machen. Um den zeitlichen Ablauf einschätzen zu können, greift Bruno Hafner auf eine Tabelle zurück, auf der die jeweiligen Ankunftszeiten aller Älpler in den letzten fünf Jahren vermerkt sind. Die Ankunftszeiten bewegen sich über die Jahre hinweg innerhalb weniger Minuten. Die Älplerfamilien sind mit ihren Tieren also äusserst pünktlich. Dahinter steckt viel Erfahrung. Die gleichen Familien, die bereits vor 15 Jahren bei der ersten Alpabfahrt dabei waren, ziehen auch heute noch durch Schüpfheim. Einige sind zwischenzeitlich dazugekommen – von sieben Alpen ziehen sie an diesem Tag hinab ins Tal – teilweise gab es Generationenwechsel, insgesamt aber ist der Anlass personell konstant.
Bruno Hafner amtet seit fünf Jahren im OK, das er nun zum dritten Mal präsidiert. Er hat den Anlass wachsen sehen: Zuerst war nur ein Alpabzug, dann wurden der Markt und die Älplerchilbi ins Leben gerufen. In den vergangenen fünf Jahren ist daraus ein Grossanlass geworden. Bruno Hafner ist über diese Entwicklung erfreut: «Es zeigt, dass unser Brauchtum wieder einen grossen Stellenwert hat.» Jetzt aber sei die Kapazitätsgrenze erreicht. Die Sicherheitskosten betragen inzwischen mehrere tausend Franken – vor ein paar Jahren habe dieser Budgetposten noch gar nicht existiert. Und er betont: «Es ist kein Jodelfest, sondern eine Alpabfahrt.»
Inzwischen machen sie sogar weniger Werbung als früher. Und trotzdem kommen die Besucher. Zum Beispiel Lin. Die Taiwanesin ist vor eineinhalb Jahren mit ihrem Mann nach Zürich gezogen. Auf der Internetseite der SBB hat sie von der Alpabfahrt erfahren. Sie ist von den prachtvoll geschmückten Kühen beeindruckt. Oder Mandy und Caho Kwok. Das australische Paar lebt seit vier Jahren in der Schweiz und ist ebenfalls im Internet auf den Anlass aufmerksam geworden.
Die meisten Besucher aber kommen auch ohne Werbung. Sie stammen aus der Region, haben Verwandte und Bekannte hier oder einen Bezug zur Landwirtschaft. So wird am Strassenrand dann auch eifrig gefachsimpelt: über den Sommer («zu trocken»), den Blumenschmuck der Kühe («wunderschön») und das Wetter («ideal für die Tiere»). Und immer wieder ist auch ein gewisser Stolz spürbar. «Es ist ein schöner Anlass, um das Entlebuch und seine Tradition zu präsentieren», sagen Martin Felder und Christian Bucher, die mit Unihockey Schüpfheim ein Festzelt betreiben. «Es ist Kultur, die lebt», meint Josy Müller.
«Dieses Volksfest zeigt die Verbundenheit mit der Landwirtschaft.»
Und wie erleben die Protagonisten diesen Tag? Sie, die vor dem Morgengrauen aufstehen, die Kühe und sich selbst herausputzen und sich dann auf den Weg machen, der im längsten Fall 25 Kilometer beträgt? Natürlich sei es für Mensch und Tier gleichermassen ein anstrengender Tag, aber es sei auch schön, von so vielen Menschen empfangen zu werden, sagt Josef Portmann-Ammann von der Alp Äbnistettili. «Dieses Volksfest zeigt die Verbundenheit mit der Landwirtschaft.»
Kaum sind die letzten Kühe aus Schüpfheim abgezogen, beginnt die Menschenmenge sich aufzulösen. Und manche können es anscheinend kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Anders lässt sich der penetrant drängelnde und abenteuerlich überholende VW Golf nur schwer erklären. Mit Luzerner Nummernschild, freilich. Immerhin macht er in der Autokolonne Richtung Wolhusen etwa 20 Sekunden gut.