Steuererhöhung in Kerns wirft viele Fragen auf

Die Überraschung an der Gemeindeversammlung könnte noch Nachwehen bringen: Muss die Gemeinde auf Millionen verzichten?

Markus von Rotz
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Das Gemeindehaus von Kerns. (Bild: Pius Amrein, 28. März 2019)

Das Gemeindehaus von Kerns. (Bild: Pius Amrein, 28. März 2019)

Als Gemeindepräsident André Windlin am Dienstag am Ende der Gemeindeversammlung überraschend die spezielle Steuererhöhung um 0,01 Einheiten verkündete und auf 27. Dezember zur ausserordentlichen Gemeindeversammlung einlud, ging jeweils ein Gelächter durch den Saal – als ob die Anwesenden ihm nicht glaubten. Dabei ist es bitterer Ernst: Für die Gemeinde mit einem Gesamtertrag von 24,5 Millionen Franken (Budget 2020) stehen 4 bis 8 Mio. aus dem innerkantonalen Finanzausgleich auf dem Spiel.

Die 4,1 Millionen Franken für 2020 kann sich die Gemeinde Kerns aber sichern, wenn sie den eigenen Steuerfuss wie beantragt auf 4,71 Einheiten anhebt. Damit liegt sie beim Gesamtsteuerfuss (Kanton, Gemeinde und Kirche) gleichauf mit Sachseln (8,43 Einheiten). Kerns muss für den Fall vorsorgen, dass Sachseln nächstes Jahr Gebergemeinde werden sollte. Hätte Kerns in diesem Fall einen tieferen Steuerfuss, verlöre die Gemeinde die ganze Zahlung.

Der Gemeinderat hatte keine Vorzeichen

Komplizierter ist es für 2019. Sollte Sachseln wie erwartet auch für dieses Jahr Gebergemeinde werden, gingen Kerns, weil es aktuell noch 0,01 Einheiten unter der Gemeinde Sachseln liegt, 3,9 Millionen Franken verloren. Sachseln liegt so hoch, weil die Gemeinde 2018 eine Zwecksteuer von 0,25 Einheiten für ihren Schulhausneubau einführte. Als der Kanton im Sommer 2019 den Gemeinden mitteilte, Sachseln könnte für die beiden betreffenden Jahre Gebergemeinde werden, ging der Gemeinderat Kerns «nach Treu und Glauben und ohne Vorzeichen wahrnehmen zu können davon aus», dass der Kanton wie seinerzeit im Fall von Lungern eine Gesetzeslücke anerkenne, schreibt der Gemeinderat in seiner Botschaft zur Dezember- Gemeindeversammlung.

Wegen Lungern hätte keine Gemeinde Geld erhalten

Dazu muss man zurückblenden: 2017 wurde Lungern – damals mit dem höchsten Steuerfuss im Kanton – wegen unerwarteter Steuereinnahmen (über 30 Prozent mehr) zur Gebergemeinde. Der Gemeinderat schreibt dazu:

«Diese ausserordentliche Situation war seit Einführung des kantonalen Finanzausgleichs vor mehr als 20 Jahren nie vorgekommen.»

Die strikte Anwendung des Gesetzes – «kein Anrecht auf Ressourcenausgleich haben Einwohnergemeinden, deren Gesamtsteuerfuss unter dem Gesamtsteuerfuss einer Einwohnergemeinde liegt, die Leistungen (...) erbringen muss» – hätte zur Folge gehabt, «dass 2017 keine Obwaldner Nehmergemeinde Anrecht auf einen Ressourcenausgleich gehabt hätte.» Der zitierte Artikel 3 im Finanzausgleichsgesetz wurde damals nicht angewendet.

Erschwerend kommt laut dem Kernser Gemeinderat nun hinzu, dass bei der letzten Gesetzesrevision das System geändert wurde: Man stellt neu bei der Berechnung des Finanzausgleichs nur noch auf die Steuereinnahmen des aktuellen Jahres ab, was bedeutet, dass eine Gemeinde erst im Nachhinein auf die neue Situation reagieren kann. Ob Sachseln tatsächlich Gebergemeinde wird, «ist erst Ende Februar 2020 bekannt», sagt der kantonale Finanzverwalter Daniel Odermatt auf Anfrage.

Der Kanton sprach von einer Gesetzeslücke

Der kantonale Rechtsdienst kam seinerzeit zur Erkenntnis, man könne ausschliessen, dass der Gesetzgeber hier etwas nicht habe regeln wollen. «Somit liegt eine Lücke vor, die der Rechtsanwender so lösen muss, wie es der Gesetzgeber gemacht hätte, wenn er sich der planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzestextes bewusst gewesen wäre.» Alle Gemeinden hätten diesen Entscheid mitgetragen und man habe vereinbart, das Gesetz umgehend anzupassen, «um diese Gesetzeslücke baldmöglichst zu schliessen». Der Gemeinderat habe den Kanton mehrfach auf diese Pendenz aufmerksam gemacht, sagte Windlin am Rande der Gemeindeversammlung.

Nun erfolgt andere Rechtsauslegung als damals

An einer Kontaktsitzung des kantonalen Finanzdepartements am 15. November habe sich die Situation geändert. «Der Kanton offenbarte der Gemeinde Kerns, dass sie ‹voraussichtlich keinen Anspruch auf einen Ressourcenausgleich habe›» und signalisierte, «man gehe von einer anderen Ausgangslage und entsprechend anderer Rechtsauslegung als im Fall Lungern aus».

Finanzverwalter Odermatt begründet das auf Nachfrage so: Damals wäre der Ressourcenausgleich «ausgehebelt gewesen und keine Gemeinde hätte einen Ressourcenausgleich erhalten. Eine solche totale Blockade des Ressourcenausgleichs ist rechtlich nicht gleichzusetzen mit dem Fall, bei welchem nur eine Gemeinde keinen Ausgleich erhält. Dies wurde vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen.» Windlin sagte an der Versammlung:

Gemeindepräsident André Windlin. (Bild: PD)

Gemeindepräsident André Windlin. (Bild: PD)

«Ihr könnt euch vorstellen, wie unsere Warnlampen zu leuchten begannen.»

Und er fuhr weiter: «Die Rechtslage ist so unsicher, dass wir kein Risiko eingehen wollen.» Darum werde man für 2020 mit der Steuererhöhung (35000 Franken für die Gemeinde, ca. 5 Franken pro Steuerzahler) vorsorgen. «Bezüglich 2019 aber können wir nichts anderes tun, als gute Argumente zu sammeln.»

Wäre ein Steuerrabatt allenfalls die Lösung?

Wie wäre es, wenn der Gemeinderat nun die Steuern erhöhe, dies aber gleich wieder als Steuerrabatt abzieht? Diese Frage warf alt Gemeinderat Martin Ming am Apéro nach der Gemeindeversammlung auf. Mit einem Lachen im Gesicht sagte André Windlin, das prüfe man gerne. Finanzverwalter Daniel Odermatt sagt dazu: «Unter dem Gesamtsteuerfuss wird der Netto-Steuerfuss, also der Steuerfuss abzüglich Rabatt verstanden.» Somit ginge dies nicht. Das Wort Nettosteuerfuss findet sich allerdings im entsprechenden Gesetz nicht.

Der Gemeinderat lässt sich aber eine andere Hintertüre offen: Sollten die 0,01 Einheiten nicht nötig sein, weil der Kanton das Gesetz entsprechend ändert, könne die Gemeindeversammlung diese Erhöhung ja wieder rückgängig machen. Laut Daniel Odermatt wird das Gesetz derzeit überarbeitet. Es soll im Mai/Juni nächsten Jahres vor den Kantonsrat kommen. Im Dezember soll die Vernehmlassung dazu starten.