Mitte-Ständerätin Heidi Z’graggen blickt in ihrer Kolumne auf die vergangene Session der eidgenössischen Räte zurück.
… wie jedes Jahr auf der Haupttreppe in der Eingangshalle des Bundeshauses. Er verdeckt mit seiner Grösse, den ausladenden Ästen, dem üppigen Schmuck und dem Lichterglanz beinahe die drei fest dastehenden schwörenden Eidgenossen. Seit dem 19. Jahrhundert steht genauso fest in der Bundeshauskuppel geschrieben: «Alle für einen – einer für alle». Der inoffizielle Wahlspruch der Eidgenossenschaft sagt, dass wir eine Willensnation sind, aufeinander zugehen und miteinander Lösungen finden sollen.
Die eidgenössische Volksabstimmung des vergangenen Wochenendes hatte soeben die harte Kontroverse über die richtige Krisenpolitik in der Pandemie beendet. Das ungeschriebene Prinzip, dass die Mehrheit der Minderheit einer Volksabstimmung die Hand reicht und die Minderheit sie ergreift, zeigt sich bei der Überarbeitung des Covid-19-Gesetzes in der Wintersession. Das Parlament entschied sich für verschiedenste Verlängerungen bei den Hilfsmassnahmen und für Gratistests.
Das Budget wurde nach einer Einigungskonferenz verabschiedet. Im langen Ringen um mehr oder weniger Geld für einzelne Anliegen waren von Anfang an die zusätzlichen Gelder für die Milchwirtschaft unbestritten. Das ist gerade für die Urner Landwirtschaft ein wichtiger Beitrag.
Zu diskutieren gab der Beschluss, dass das AHV-Rentenalter der Frauen um ein Jahr auf 65 Jahre angehoben wird. Für die betroffenen Frauen wird die Erhöhung des Rentenalters während einer Übergangszeit von neun Jahren dauerhaft durch einen Rentenzuschlag kompensiert. Je tiefer die AHV-Rente ist, desto höher ist der Rentenzuschlag. Maximal beträgt er 160 Franken pro Monat für die ganze Zeit des Rentenbezugs. Dafür wird die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent erhöht. Das ist ein verantwortungsvoller sozialverträglicher Kompromiss, der die Stabilisierung der AHV mittelfristig sicherstellt. Doch das letzte Wort wird das Volk haben.
Im Ständerat führten wir unter vielen anderen Debatten, diejenigen zur Aufhebung der Verjährungsfrist bei Schwerstverbrechen, zu mehr Transparenz bei den Abstimmungen, zur Revision der Strafprozessordnung und zu einer Motion über die Einbürgerungen.
Der Ständerat hat knapp zugestimmt, dass bei Verbrechen, auf die lebenslange Strafen stehen – beispielsweise Mord, nach 30 Jahren keine Verjährung mehr erfolgt. Ich habe mich mit einem Votum dafür eingesetzt. Für die Angehörigen der Opfer verjährt der Schmerz nie und dank neuer kriminaltechnischer Methoden kann heute auch nach langer Zeit ein schweres Verbrechen aufgeklärt und bewiesen werden. Damit ist im Laufe der Zeit ein wichtiger Grund für die Verjährung weggefallen.
Als ehemalige Justizdirektorin des Kantons Uri habe ich mich dafür ausgesprochen, dass die Praxistauglichkeit der Strafprozessordnung verbessert wird. Die Stellung der Staatsanwaltschaft soll bei Einvernahmen gestärkt werden, sodass sie ihre Aufgabe, die Aufklärung von Straftaten, gut erfüllen kann.
Gut ist, dass der Ständerat künftig Listen, wer wie abgestimmt hat, veröffentlicht. Die Zeit ist reif für diese Offenlegung. Wählerinnen und Wähler können sich so einfach informieren, wenn sie ein Abstimmungsresultat interessiert.
Deutlich lehnte der Ständerat eine Motion ab, die die automatische Einbürgerung für alle wollte, die in der Schweiz geboren werden. Mein Votum gegen die automatische Einbürgerung war darin begründet, dass sich die Einbürgerungspraxis bewährt hat und vor Ort in den Gemeinden erfolgen soll.
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte Bundesrat Ignazio Cassis zum Bundespräsidenten für das Jahr 2022. Schön, dass nach so vielen Jahren wieder ein Tessiner Bundespräsident ist. Auch das ist Ausdruck unserer Willensnation. Den Willen nämlich, den Zusammenhalt im Land zu stärken, indem neben den Parteien möglichst auch die Regionen, Sprachen und Geschlechter im Bundesrat angemessen vertreten sind.
Wenn die Glocke zum Zusammentreten der Vereinigten Bundesversammlung läutet, nehmen wir Ständerätinnen und Ständeräte hinten im Nationalratssaal auf den Sitzen unserer Kantone Platz. Während des Auszählens der Ergebnisse der Wahlen kommt Zeit zum Sinnieren zur Frage auf, wie viele Ständeräte wohl vor uns unter dem Urner Wappen gewählt und damit das Geschick der Eidgenossenschaft mitgeprägt haben. 32 Ständerate vertraten seit 1848 Uri in der Eidgenossenschaft. Seit das Bundeshaus von den eidgenössischen Räten 1902 feierlich eingeweiht wurde, waren es 21 Urner Standesvertreter auf den beiden Sitzen unter dem Uristier. Somit sitze ich als 11. und erste Frau Ständerätin auf dem einen historischen Holzsitz.
Der Blick beim Nachdenken über Geschichtliches schweift dabei zum eindrücklichen Wandbild mit dem Vierwaldstättersee und der Rütliwiese und hält inne bei der seit 1902 sitzenden Figur von Wilhelm Tell auf der einen und der Stauffacherin auf der anderen Seite. Wie passend zur Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts vor 50 Jahren auf eidgenössischer Ebene und nächstes Jahr auf kantonaler Ebene.