Leo Bircher (65), pensionierter Balance-Künstler
Leo Bircher (65) aus Stansstad hat 45 Jahre in derselben Firma als Schreiner gearbeitet. Das wäre doch mal was für ein Interview, meint er. Nun, dass er in seiner Jugend Sophia Loren, Audrey Hepburn oder Maigret-Autor Georges Simenon kennen gelernt hat und später als Balancekünstler in den Shows von Thomas Gottschalk, Günther Jauch und Arabella Kiesbauer auftrat, ist aber auch nicht so schlecht.
Leo Bircher, welches ist Ihre beste Nummer als Balancekünstler?
Leo Bircher: Wahrscheinlich schon jene Nummer, die auch Arabella Kiesbauer so begeistert hat. Ich habe in ihrer Show 100 Gläser auf einem Tablett in der Grösse eines Tisches mit einem Stab auf der Nase balanciert. 17 Kilo Gewicht – das braucht volle Konzentration, konzentrierte Atmung.
17 Kilo auf der Nase?
Bircher: Ja. Und damit bin ich dann die Leiter hochgelaufen. Die 17 Kilo gehen vor allem in die Beine. Und dazu läuft einem im Scheinwerferlicht der Schweiss nur so das Gesicht runter.
Sie waren bei Gottschalk, bei Jauch, bei Kiesbauer, bei Kurt Felix, bei Hans Meiser, bei Jörg Wontorra, bei Röbi Koller. Alle haben Sie gebucht. Was haben Sie alles gezeigt?
Bircher: Ach, alles Mögliche, mit dem Besen, mit dem Schirm, auch mit dem Einrad. Einmal habe ich auf der Nase zwei Flaschen balanciert und dabei eine davon ausgetrunken. Das Publikum hat dabei «Trink, trink, Brüderlein trink» gesungen. Das war nicht schwierig. Aber lustig wars.
Sie wurden soeben als Schreiner pensioniert. Treten Sie denn immer noch als Balancekünstler auf?
Bircher: Nein, ich habe meine Karriere vor drei Jahren beendet. Von 1977 bis 2012 bin ich an jedem Wochenende aufgetreten. Aber für diese Balance-Darbietungen braucht es Muskelkraft, die ich nicht mehr aufbringe. Und wenn ich die Muskeln dazu nicht mehr habe, dann fliegen die Gläser.
Wie fing das eigentlich an mit dem Balancieren?
Bircher: Während der Schulzeit, mit 12 Jahren, habe ich entdeckt, dass ich Lineale, Bleistifte, Besen gut balancieren kann. Lineale auf dem Finger balancieren, das können vielleicht viele. Aber ich konnte die mit dem Finger hoch in die Luft werfen, sich mehrmals überschlagen lassen und mit dem einen Finger wieder auffangen. Ich wusste allerdings schon als Drittklässler, dass ich Schreiner werden wollte. Ich habe acht Geschwister, die sind beispielsweise Metzger, Mechaniker oder Käser geworden.
Wo sind Sie aufgewachsen?
Bircher: In Obbürgen. Als Sennen- und Käserbub. Auf dem Bürgenstock habe ich dann als 13-jähriger Golftaschenträger mein erstes Sackgeld verdient. Ich habe dabei Sophia Loren, Audrey Hepburn, Jackie Kennedy oder Georges Simenon kennen gelernt. Und mit meinem Taschengeld habe ich mir dann ein Zweirad-Töffli zusammengespart. Als ich den Vater fragte, ob ich das Töffli kaufen dürfe, sagte er, ich müsse die Mutter fragen. Die Mutter sagte, ich müsse den Vater fragen. Da habe ich es einfach gekauft, ich konnte es ja aus meiner eigenen Tasche zahlen. Ich war der Erste in der Schule, der ein Töffli hatte.
Und wann hatten Sie Ihren ersten prominenten Auftritt?
Bircher: Das war 1987 beim «Supertreffer» von Kurt Felix. Da habe ich 66 Gläser balanciert. 1982 machte ich den ersten Weltrekord. Ich habe zwei Stunden, 30 Minuten und 54 Sekunden lang einen Regenschirm auf der Nase balanciert. Bei den Shows im deutschen Fernsehen hiess es dann: Der Bircher, der muss am Schluss kommen, etwas Besseres gibt es nicht.
Wer war Ihr liebster, bester Gastgeber?
Bircher: Arabella Kiesbauer. Sie hatte viele «Wetten, dass ...»-Könige in ihrer Sendung, aber sie war vor allem begeistert von meiner Gläser-Nummer. Dafür hat sie mich auch in ihre tausendste Sendung eingeladen. Ich habe 100 Gläser über die Leiter balanciert, war pflotschnass, aber gewonnen hat dann der Michael-Jackson-Imitator.
Bei Gottschalk waren Sie auch mal.
Bircher: Ja, aber nicht in der «Wetten, dass ...»-Sendung. Die Sendung hiess «Na sowas». Da habe ich drei Stunden und eine Minute lang ein offenes Zeitungsblatt mit einem Zahnbürstchen im Mund balanciert. Übrigens, es war sogar eine Seite der «Luzerner Zeitung».
Ihr peinlichster Vorfall? Ich meine, als wirklich mal was schiefging, alle Gläser zu Boden fielen?
Bircher: Keine Scherben! Die Gläser-Nummer habe ich wirklich beherrscht. Aber im alten St.-Jakob-Stadion habe ich einmal versucht, mit dem Bleistift auf der Nase den Weltrekord von sechs Minuten und 27 Sekunden zu überbieten. Doch nach zwei, drei Minuten musste ich aufgeben. Die Scheinwerfer haben mich derart geblendet, das Augenwasser ist mir nur so runtergelaufen. Und als ich bei France 2 in Paris war, haben die schnell einmal gemerkt, dass ich nicht Französisch spreche. Hab dann einfach mit «Oui, oui» mein Ding durchgezogen.
Haben Sie Familie? Oder anders gefragt: Bei all der Nasenakrobatik – wer tanzt Ihnen auf der Nase herum?
Bircher: Nein, mit Familie wäre das alles nicht gegangen. Sie müssen sich vorstellen: Ich habe von Montag bis Freitag in der Schreinerei gearbeitet und hatte am Wochenende Show. Für Show-Kreuzfahrten von Genua bis Rio mit Zwischenhalten in Casablanca und so weiter musste ich im Betrieb Ferien nehmen. Da wäre ich ja nie für die Familie da gewesen.
Zu Ihrer Show-Palette gehört auch noch der Limbotanz. Wieso können Sie das auch noch?
Bircher: Das habe ich in den Ferien in Kenia entdeckt. Ich war schon zehnmal in Kenia und gehe immer wieder. Bei den Animationsspielen im Hotel wurde ich auf Anhieb Zweitbester. Das gab mir die Limbo-Motivation.
Mit 1,29,7 m haben Sie den Europarekord geschafft.
Bircher: (lacht laut heraus) 1,29,7 m? Sie meinen 29,7 cm! Da, schauen Sie (Bircher hält ein A4-Blatt hoch), da müssen Sie unten durch.
Was hat das gekostet, wenn man den Leo Bircher buchen wollte?
Bircher: Sagen wir ... 1700 Franken für einen Auftritt. 1000 Franken plus Hotel und Spesen. An Silvesterabenden habe ich zuweilen an drei Orten gespielt. Zuerst in Weggis, dann in Morschach, dann in Biberbrugg. Einmal, ich glaube, es war bei Kurt Felix, durfte ich 300 Gläser mit heimnehmen. Die haben die abgeschrieben, weil sie dachten, die gehen sowieso zu Bruch.
Was können Sie eigentlich nicht balancieren?
Bircher: Ich habe einmal bei einem Zirkusfestival 100 Gläser auf einem Tablett mit einem Stab auf der Nase balanciert und dann auf die Gläser noch einen Stuhl draufgestellt. Das klappte nicht. Durch die Vibration ist der Stuhl weggerutscht.
Jetzt sind Sie in Pension. Und auch den Balancekünstler Bircher gibt es nicht mehr. Was machen Sie?
Bircher: Ja, als die Muskelkraft nachliess, habe ich einen Strich gezogen. Der Name sitzt, das soll so bleiben. Ich wandere viel, bin an Kunst und Kultur interessiert. Ich war soeben in Österreich, im Pitztal. Als Nächstes gehts in den Schwarzwald, und zwei-, dreimal im Jahr bin ich auf Mallorca. Ich bin stets auf dem Boden geblieben. «Spare in der Zeit, dann hast du in der Not», das haben mir meine Eltern mitgegeben. Jetzt kann ich es geniessen.
INTERVIEW TURI BUCHER