Der Jüdischen Gemeinde Luzern droht das Aus. Nun versucht ein israelischer Anwalt, den Niedergang aufzuhalten. Ab Mai will er Familien aus dem In- und Ausland ansiedeln.
René Staubli
Es gab eine Zeit, da war das jüdische Viertel entlang der Luzerner Bruchstrasse noch voller Leben. Vor 50 Jahren umfasste die 1867 gegründete Gemeinde 160 Familien. Für die zahlreichen Kinder gab es einen jüdischen Kindergarten und eine nach Geschlechtern getrennte jüdische Primarschule. Die Mütter kauften im koscheren Lebensmittelgeschäft und in der koscheren Metzgerei ein. In der alten Synagoge fand morgens und abends je ein Gottesdienst statt. Im eben eröffneten Mädchenseminar Beth-Jacov lernten Studentinnen aus aller Welt; übernachten konnten sie im jüdischen Gemeindehaus. Und im nahen Kriens stand die Eröffnung der Talmudhochschule (Jeschiwa) bevor, einem international ausgerichteten Internat für junge Männer, viele von ihnen angehende Rabbiner.
Wer heute durchs Stadtluzerner Bruchquartier geht, findet fast nichts mehr von dem, was einmal jüdisch war: keine Schulen, keine koscheren Geschäfte, keine erkennbar jüdischen Kinder und Erwachsenen auf der Strasse. Das Mädchenseminar Beth-Jacov musste wegen finanzieller Probleme schon vor 15 Jahren schliessen. In Kriens, wo die Jeschiwa ihren Betrieb vergangenen September eingestellt hat (Ausgabe vom 19. August 2015), bietet sich ein trostloses Bild: Der Gebäudekomplex ist baufällig, der Pausenplatz von Moos und Unkraut überwuchert. In den verlassenen Klassenzimmern liegen Bände mit hebräischen Schriftzeichen zwischen gestapelten Stühlen.
Die goldene Epoche hatte die Talmudhochschule vor allem dem russisch-schweizerischen Rabbiner Jizchok Kopelman zu verdanken. Als der charismatische Rektor 2011 im Alter von 106 Jahren starb, hatte er die Jeschiwa 48 Jahre lang geleitet und Tausende von Zöglingen inspiriert. Nach seinem Tod versiegten die Spenden, und die Anmeldungen ausländischer Studenten aus vermögenden Familien gingen stark zurück.
Das hatte direkte Auswirkungen auf die Jüdische Gemeinde Luzern (JGL), die überaltert ist, mehrheitlich aus Einzelhaushalten besteht und nur noch 40 Mitglieder umfasst. Die Gemeinde, die einzige in der Zentralschweiz, hatte es in den letzten Jahren mehrheitlich den Studenten zu verdanken, dass sie den vollständigen Gottesdienst (Minjan) aufrechterhalten konnte, für den nach jüdischem Glauben mindestens zehn Männer im Alter von 13 oder mehr Jahren anwesend sein müssen. An Samstagen legten die Talmudschüler die 4 Kilometer von Kriens zur Synagoge zu Fuss zurück, denn es ist praktizierenden Juden verboten, am Sabbat öffentliche Verkehrsmittel oder gar Autos zu benützen. Seit sie wegbleiben, fällt das Gebetsritual immer häufiger aus.
Auf dem 48-jährigen israelischen Anwalt ruhen inzwischen alle Hoffnungen. 2003 war er mit seiner Frau Michelle von Jerusalem nach Luzern gezogen, damit sie sich vermehrt um ihre gesundheitlich angeschlagenen Eltern kümmern konnten. Ihr Vater, der 83-jährige Hugo Benjamin, ist seit 30 Jahren Vorsteher der JGL. Shitrit, selber praktizierender Jude, baute mit seiner Frau eine Anwaltskanzlei auf, die auf Gesellschaftsrecht, Vermögensverwaltung und Immobiliengeschäfte spezialisiert ist. Als sich der Niedergang der JGL immer deutlicher abzeichnete, bot er seine Hilfe an. Unter der Bedingung, dass er über die nötigen Sanierungsmassnahmen selber entscheiden könne.
Bei der Überprüfung der Buchhaltung stellte er fest, dass die Gemeinde am Rande des Konkurses stand. Sie hatte unbezahlte Rechnungen angehäuft, verfügte kaum über Einnahmen und litt unter den hohen Fixkosten. Allein der Unterhalt der Mikwe, des rituellen Reinigungsbads in der Synagoge, verschlang inklusive Heizkosten 3000 Franken pro Monat. Für das Salär des Rabbiners hatte das Geld nebst den vielen andern Ausgaben öfter nicht gereicht. Als er 2008 nach Amerika ging, hatten die Gemeindemitglieder für religiöse Alltagsfragen keinen Ansprechpartner mehr. Shitrit sagt: «Ohne eigenen Rabbi ist eine jüdische Gemeinde keine richtige Gemeinde mehr.»
Mit einer Reihe von Sofortmassnahmen schuf er Ordnung und eine neue Ausgangslage: Er nahm eine Hypothek auf, um aus den leer stehenden Schul- und Schlafzimmern im jüdischen Gemeindehaus Wohnungen zu machen. Die Räumlichkeiten der stillgelegten koscheren Metzgerei vermietete er einem Handwerksbetrieb, schaltete die Website jgluzern.ch auf und eröffnete einen jüdischen Kindergarten.
Als Notlösung konnte er den Zürcher Rabbiner Josef Wieder dazu bewegen, wenigstens an einem Samstag pro Monat für einen Gottesdienst nach Luzern zu kommen und in der Synagoge eine wöchentliche Bibellektion abzuhalten. Anschliessend stellte er Überlegungen an, wie es gelingen könnte, die Zahl der Gemeindemitglieder zu erhöhen, doch mit der Umsetzung der Ideen tat er sich lange Zeit schwer.
Inzwischen gibt es einen konkreten Aufbauplan. Wenn alles klappt, sollen im Mai drei bis fünf Familien aus dem In- und Ausland in die Innerschweiz ziehen und auch den neuen Rabbi stellen. «Wir können ihnen im Gemeindehaus subventionierten Wohnraum anbieten», erklärt Shirtrit. Heute verfüge man über genügend Mittel, um die neuen Mitglieder zwei bis drei Jahre lang finanziell zu unterstützen. Solange es in Luzern keine jüdische Schule gebe, wolle man für die Kinder einen Shuttlebus nach Zürich einrichten. Zusätzlich sollen mindestens zehn Studenten in die Stadt kommen, um in der Synagoge den Talmud zu studieren, der aufzeigt, wie die 365 jüdischen Verbote (für jeden Tag eines) und 248 Gebote (für jedes Glied des menschlichen Körpers) im Alltag auszulegen sind. Die orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft Zürich (IRGZ), zu der er gute Beziehungen unterhalte, sei bereit, Aufbauhilfe zu leisten, sagt Shitrit. Das JGL-Projekt sieht er als «Start-up«, sozusagen als Tochterfirma der Zürcher Partnerorganisation mit dem Ziel, selbstständig zu werden.
Das alte Luzerner Gebetshaus liegt Shitrit besonders am Herzen. «Es handelt sich um die weltweit einzige erhaltene Synagoge in dieser Architektur», betont er. Sie wurde nach Plänen des deutschen Architekten Max Seckbach erbaut und 1912 eingeweiht, also vor mehr als 100 Jahren. Der Frankfurter hatte auch die Synagogen in Bad Homburg, Weinheim und Memmingen entworfen. Alle drei wurden von den Nationalsozialisten im November 1938 in der Reichskristallnacht zerstört – wie weitere 1400 Synagogen, Betstuben, Versammlungsräume sowie Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe in ganz Deutschland. Es war der traurige Auftakt zum Holocaust.
Bei ihrem Wiederaufbauplan orientieren sich die Luzerner am Vorbild der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft Basel (IRG). Ebenfalls vom schleichenden Niedergang bedroht, hatte diese einen Fonds geäufnet, aus dem junge, praktizierende Juden über einen längeren Zeitraum monatliche Zuwendungen erhielten, bis sie für sich selber sorgen konnten. So gelang es, die Zahl der Mitgliedsfamilien innert vier Jahren von knapp 60 auf über 70 zu steigern. Freilich hatte die Basler Gemeinde die Weichen gestellt, als sie noch über eine intakte jüdische Infrastruktur verfügte. Der vielfältige Arbeitsmarkt habe die berufliche Integration der Zuzüger erleichtert, heisst es. In Luzern, das stark vom Tourismus abhängig ist, sind die Rahmenbedingungen deutlich schlechter, weil viele Jobs mit Wochenendarbeit verbunden sind – eine hohe Hürde für praktizierende Juden.
Auf staatliche Hilfe kann die Jüdische Gemeinde Luzern beim Wiederaufbau ihrer Infrastruktur nicht hoffen. Während in Deutschland, England, Spanien oder Frankreich jüdische Schulen finanziell unterstützt werden, gilt Religion in der Schweiz als Privatsache. «Wir müssen unsere Kinder in Privatschulen schicken, weil öffentliche Schulen weder jüdische Werte vermitteln noch koscheres Essen abgeben«, sagt Shitrit. Zudem könnten jüdische Kinder nicht an Weekend- Veranstaltungen und Ferienlagern teilnehmen. Das empfindet er als ungerecht: «Wir zahlen Steuern für die Ausbildung unserer Kinder, bekommen vom Kanton aber kein Geld für unsere Schulen.»
Als der Anwalt deswegen eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einreichen wollte, legte das Zürcher Rabbinat sein Veto ein – aus Angst vor antisemitischen Reaktionen aus der Bevölkerung.
Offen bleibt, wie anziehend oder abschreckend die strenge Religionsauffassung wirkt, der sich die JGL verschrieben hat. Sie gilt als eine der konservativsten Gemeinden Europas. 1992 trat sie unter Protest aus dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund aus, weil dort liberale jüdische Gemeinschaften aufgenommen werden sollten. Vorsteher der Gemeinde war schon damals Hugo Benjamin. Trotz angeschlagener Gesundheit verfügt der 83-Jährige über einen beneidenswert scharfen Verstand. Er ist Schweizer, absolvierte die Rekrutenschule, besuchte in den 50er-Jahren eine Talmudschule in England und führte dann in Luzern gemeinsam mit seinem Bruder ein Engros-Geschäft. Er kann mit der beliebigen Auslegung seiner Religion wenig anfangen: «In einer jüdischen Gemeinde muss es darum gehen, das Jüdische zu erhalten.«
Die Regeln sind strikt: Wenn ein jüdischer Mann eine nichtjüdische Frau heiratet, die nicht konvertiert, wird er aus der Gemeinde ausgeschlossen. Benjamin erklärt den Grund: «Wenn eine Mischehe besteht und Kinder da sind, suchen die Leute immer den leichteren Lebensweg; der jüdische Weg ist ihnen zu anstrengend. Mit der Folge, dass die Nachkommen nach zwei oder drei Generationen nicht mehr jüdisch sind.» Praktizierende Juden halten sich übers ganze Jahr an vielerlei Vorgaben. Sie beten morgens und abends, essen konsequent koscher, schicken ihre Kinder in jüdische Schulen und betätigen am Sabbat weder Geräte noch Stromschalter.