Auch Politiker und Experten waren entsetzt über die Wassermassen, die uns 2005 heimsuchten. Jetzt wird gehandelt, versprachen sie. Doch Hochwasserschutz stösst oft an Grenzen von Machbarkeit und politischem Willen.
Christian Hodel
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft ein tiefer Graben: Eigentlich sollte der Kanton Luzern für den Schutz vor Hochwasser und Murgängen zwischen 2014 und 2016 rund 173 Millionen Franken investieren – zur Verfügung steht mit 18,7 Millionen Franken pro Jahr kaum ein Drittel davon. 9,2 Prozent der Siedlungsfläche im Kanton sind vor Jahrhunderthochwassern noch immer ungeschützt – 1300 Hektaren bewohntes Land, über 1700 Fussballfelder gross.
Waren die Worte von Politikern, die im August 2005 rasch besseren Schutz versprachen, leere Versprechen?
Man habe auf die Katastrophe reagiert, heisst es zehn Jahre danach bei den Behörden unisono. «Das Hochwasser 2005 hat gezeigt, dass sich das Wasser den Raum nimmt, den es braucht», sagt Susanne Bäurle-Widmer, stellvertretende Departementssekretärin des Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartements des Kantons Luzern. «Heute ist das Verständnis grösser, dass den Fliessgewässern mehr Raum zugestanden werden muss. Die reine Gefahrenabwehr hat ausgedient.» Doch was ist passiert nach 2005?
Im Kanton Luzern wurden in den Folgejahren für die Instandstellung des Reusswehrs 22,8 Millionen Franken investiert. An der Kleinen Emme wurden bei Malters die Holzrückhalteanlage Ettisbühl und der Zuströmbereich im Abschnitt Ennigen für 7,25 beziehungsweise 4,6 Millionen Franken gebaut. Bei Littau gab es neue Hochwasserschutzdämme für 4,3 Millionen Franken.
Insgesamt hat der Kanton Luzern die 2005 zur Verfügung stehenden 15 Millionen Franken für den Hochwasserschutz vorübergehend auf 30 bis 35 Millionen Franken erhöht. Ab 2012 senkte der Luzerner Kantonsrat die Beiträge wieder. Kontinuierlich, auf rund 18 Millionen Franken im letzten Jahr.
Uri ging mit der Katastrophe anders um: Drei Jahre nach den Unwettern bewilligte das Volk mit 88 Prozent Zustimmung ein neues Hochwasserschutz-Programm. 82 Prozent der vorgesehenen Massnahmen wurden per Ende 2014 abgeschlossen, wie Ernst Philipp, Abteilungsleiter Wasserbau des Kantons Uri, sagt. Von den gesprochenen 161 Millionen Franken sind derzeit noch 29 Millionen Franken übrig. «Die Mittel genügen zur Umsetzung der restlichen aktuell bekannten Projekte.»
Neben Schutzprojekten – etwa im Urner Talboden für 75 Millionen Franken – hat die Urner Bau- und Sicherheitsdirektion nach dem Jahrhunderthochwasser die Grundlagen zur «Ereignisbewältigung überarbeitet», sagt Philipp. Die Zuständigkeiten seien geregelt und ein 24-Stunden-Pikettdienst eingerichtet worden. «Nach dem Hochwasser wurden wesentliche Verbesserungen im Hochwasserschutz gemacht», sagt Philipp. So verfügt inzwischen jeder der Zentralschweizer Kantone über eine Gefahrenhinweiskarte – die prekären Orte sind den Behörden bestens bekannt. Dass dies aber keine Sicherheitsgarantie ist, zeigt das Beispiel Dierikon.
2013 startete der Kanton Luzern am Götzentalbach ein Projekt. Ein Jahr später stoppte er es, weil der Kantonsrat das Budget kürzte. Diesen Mai hat die Gemeinde die Projektierung wieder in Auftrag gegeben – sie will das Projekt selber vorfinanzieren. Gibt es keine Einsprachen, könnte mit dem Schutzprojekt im Herbst 2016 begonnen werden.
Für eine 32-jährige Mutter und ihre 5-jährige Tochter kommt dies zu spät. Anfang Juni ertranken sie im Keller ihres Hauses, als der Götzentalbach über die Ufer trat und ihr Wohnhaus flutete.
«Für Schutzmassnahmen fehlt das Geld», titelte unsere Zeitung wenige Tage nach den Unwettern am 31. August 2005. Bereits damals gab es Gefahrenhinweiskarten; die Behörden wussten, an welchen Stellen es gefährlich ist. Über 100 Schutzprojekte warteten damals in Luzern auf die Umsetzung – realisiert sind auch zehn Jahre später längst nicht alle. «Wir versuchen immer, die Hochwasserrisiken präventiv zu minimieren», sagt Susanne Bäurle-Widmer vom Kanton Luzern. «Es stellt sich aber immer auch die Frage, mit welchen Kosten welcher Nutzen erreicht werden kann. Eine kontrollierte Überflutung von Landwirtschaftsland kommt eventuell weniger teuer als eine massive Verbauung.»
Der Hochwasserschutz ist eine Verbundaufgabe von Bund, Kanton und Gemeinden – alle müssen sich an den Projekten finanziell beteiligen, was zu Problemen und Verzögerungen führt. Die Gretchenfrage lautet: Wer bezahlt wie viel? Und: Haben überhaupt alle Parteien die entsprechenden finanziellen Mittel? Jüngst beklagte sich etwa die Gemeinde Malters, 16 Millionen Franken sei für sie zu viel für den Hochwasserschutz an der Kleinen Emme. Zumal andere Gemeinden weniger oder gar nichts berappen – und trotzdem von den Massnahmen profitieren.
Auch in Nidwalden kennt man das Problem: «Finanztechnisch limitierte Partner waren in der Vergangenheit mehrheitlich die Gemeinden», sagt Markus Klauser vom Tiefbauamt. Inwiefern künftig auch der Kanton oder der Bund Projekte nicht mehr mitfinanzieren können, werde die Zukunft weisen. Der Kanton Nidwalden investierte 2005 rund 950 000 Franken in den Hochwasserschutz – im letzten Jahr waren es 4,6 Millionen Franken. «Die Schwankungen sind recht markant und massgeblich abhängig vom jeweiligen Stand der einzelnen Projekte», sagt Klauser. Das Investitionsvolumen in den Hochwasserschutz sei durch das Ereignis von 2005 «nicht signifikant beeinflusst worden».
Ist der Hochwasserschutz also auf der politischen Agenda verschwunden – das Jahrhunderthochwasser nach zehn Jahren schon vergessen? Peter Lienert vom Amt für Wald und Landschaft des Kantons Obwalden verneint. «Allerdings ist die Politik bei unmittelbaren Ereignissen eher bereit, Mittel einzusetzen», sagt er. Nachhaltiger und auch günstiger sei es aber, wenn «über lange Zeit genügend Mittel bereitgestellt würden».
Obwalden hat von 2005 bis 2014 rund 120 Millionen Franken in den Hochwasserschutz investiert. Dennoch sind auch hier meist kleinere Projekte aufgrund der «personell und finanziell zur Verfügung stehenden Mittel» im Zeitplan nach hinten gestellt worden.
Die Schwierigkeiten allein aufs fehlende Geld abzuschieben, greift zu kurz, wie das Beispiel der Engelbergeraa im Kanton Obwalden zeigt: Nach den Unwettern 2005 stampften die Behörden das grösste Hochwasserschutzprojekt aus dem Boden, das die Gemeinde Engelberg je gesehen hat. 83 Parzellen im Besitz von 55 Eigentümern sind auf dem 4 Kilometer langen Abschnitt betroffen, der saniert und verbreitert werden soll.
Doch bis heute steht der Hochwasserschutz nicht. Private Einsprachen verzögerten das 30 Millionen Franken teure Projekt. Die letzte Beschwerde wurde im Mai vom Verwaltungsgericht Obwalden abgewiesen. Nun, nach zehn Jahren, soll das Schutzprojekt starten. Es sei immer schwierig, die Interessen der Betroffenen «auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen», sagt Peter Lienert vom kantonalen Amt für Wald und Landschaft.
«Hochwasserschutzprojekte sind oft langwierig», sagt auch Heinz Tännler, Zuger Regierungsrat. Neben dem politischen Prozess gelte es, mit den Landeigentümern einvernehmliche Lösungen zu finden – und durch die Einsprachenverfahren könnten sich Projekte «gut und gerne ein paar Jahre verzögern».
Die Kantone Zug und Schwyz waren vom Unwetter weniger betroffen als der Rest der Region. «Doch auch wir sind gegen ein Jahrhunderthochwasser nicht gefeit», sagt Tännler. «An gewissen Stellen sind wir haarscharf an einem grösseren Schaden vorbeigegangen.»
Umfassende Hochwasserschutzprojekte, wie es sie etwa in Luzern gibt, fehlen in Zug. «Es gibt einige Hotspots im Kanton», sagt Tännler. Die Schwachpunkte würde man kennen – und auch laufend Verbesserungen vornehmen. So sei etwa ein Abschnitt der Lorze in Baar für 6 Millionen Franken saniert worden – oder der Littibach für 4,5 Millionen Franken. Im vergangenen Jahr hat der Kanton rund 6 Millionen Franken in den Hochwasserschutz investiert.
Laut dem Jahresbericht gab der Kanton Schwyz 2014 rund 3,4 Millionen Franken für den Hochwasserschutz aus. Alois Rey vom Amt für Wasserbau: «Der Kanton beteiligt sich an den Kosten für Hochwasserschutzprojekte, die Hoheit darüber haben aber die Bezirke.»
Unzählige Massnahmen für den Hochwasserschutz sind derzeit in der Zentralschweiz in Planung oder werden ausgeführt. Hier eine Auswahl:
Das Luzerner Grossprojekt im Hochwasserschutzbereich liegt an der Reuss und der Kleinen Emme. Vom Reusszopf in Emmenbrücke bis zur Kantonsgrenze bei Honau wird der Hochwasserschutz auf 13,2 Kilometern für 167 Millionen Franken erneuert. Die Realisierung soll 17 Jahre dauern. Derzeit wird eine erste Etappe des Hochwasserschutzprojekts Kleine Emme am Seetalplatz für 39 Millionen Franken realisiert.
Bei Sarnen ist nach dem Jahrhunderthochwasser ein Jahrhundertschutzprojekt geplant – ein rund 6,6 Kilometer langer Stollen mit einem Durchmesser von 6 Metern. Er beginnt in Sachseln am Sarnersee und soll bis ans untere Ende des Wichelsee reichen. Baustart ist frühestens 2017. Die Arbeiten sollen rund sechs Jahre dauern. Die gesamten Kosten für den Hochwasserschutz im Sarneraatal betragen über 110 Millionen Franken.
In Engelberg soll die Engelbergeraa auf einem Abschnitt von 4 Kilometern für rund 30 Millionen verbreitert werden. Weitere 10 Millionen Franken sind für zusätzliche Bauprojekte zum Hochwasserschutz in Engelberg vorgesehen. Frühester Baustart an der Engelbergeraa ist Frühjahr 2016 – gerechnet wird mit einer Bauzeit von bis zu acht Jahren.
Bis 2021 soll der Träschlibach bei Beckenried in vier Etappen von der Seemündung bis ins Gebiet Hegelrüggen ausgebaut werden. Die Arbeiten laufen. Kosten: 33 Millionen Franken.
In Uri ist man daran, für 75 Millionen Franken das Hochwasserschutzprojekt Urner Talboden umzusetzen. Die Sanierung des rechten Reussufers zwischen Attinghausen und Erstfeld ist das letzte verbleibende grössere Teilprojekt. 2016 sollen die Arbeiten beendet sein.