Der Vierwaldstättersee könnte den ganzen angrenzenden Siedlungsraum mit Wärme oder Kälte versorgen, zeigt eine Studie. Das gibt einem Projekt in Horw zusätzlich Auftrieb.
Alexander von Däniken
Gerade in diesen Hitzetagen lädt der Vierwaldstättersee zu einem kühlenden Bad ein. Der See ist allerdings zu viel mehr fähig, wie das eidgenössische Forschungsinstitut Eawag kürzlich im Auftrag der Aufsichtskommission Vierwaldstättersee untersucht hat. Demnach kann das Wasser aus dem See den ganzen angrenzenden Siedlungsraum mit Wärme oder Kälte versorgen – ohne nennenswerte Nachteile für die Umwelt.
Ein Kubikmeter Seewasser reicht aus, um einen Quadratmeter Fläche in einem Gebäude rund zwei Tage lang zu beheizen, erklärt die Aufsichtskommission in ihrem aktuellen Informationsmagazin dazu. Die Kommission wird von den Anrainerkantonen des Sees gebildet und setzt sich für den Gewässerschutz ein. Der Vierwaldstättersee mit seinen 12 Milliarden Kubikmetern Wasser enthalte ein «gewaltiges Potenzial zum Heizen und Kühlen von Gebäuden in der Region». Konkret entspricht das bereitstehende Wärmepotenzial 2900 Gigawattstunden. Zum Vergleich: Der Wärmebedarf von 100 000 Einwohnern beträgt 700 bis 900 Gigawattstunden.
Dass aus kaltem Seewasser geheizt wird, klingt nach einem Widerspruch. Allerdings sind seit Jahren sogenannte Wärmepumpen im Einsatz, die mit einer Kühlflüssigkeit funktionieren, welche durch das Seewasser erwärmt wird (siehe Grafik). Das in den See zurückfliessende Wasser ist kälter als das Seewasser und kühlt dieses ab. Laut Eawag können die obersten 50 Meter des Sees um maximal ein halbes Grad abgekühlt werden, ohne dass die Natur belastet wird.
Im Sommer kann das kalte Seewasser direkt zur Kühlung von Infrastruktur verwendet werden. Das gesamte Kühlpotenzial des Vierwaldstättersees schätzt die Eawag auf 1100 Gigawattstunden; unter der Bedingung, dass damit der See in 20 bis 40 Metern Tiefe ebenfalls um nur ein halbes Grad erwärmt wird.
Alfred Wüest, Autor der Studie und Leiter der Abteilung Oberflächengewässer bei der Eawag in Kastanienbaum, erklärt auf Anfrage: «Der Vierwaldstättersee eignet sich hervorragend für die Wärme- und Kältenutzung.» Einzig im Luzerner Seebecken müsse ein Abstrich gemacht werden. Weil der See dort nicht so tief ist, sei dieser Seearm für das Kühlen im Sommer nicht geeignet; zu stark würde er sich beim Einleiten des Kühlwassers erwärmen.
Die Eawag hat bereits Studien für andere Seen erarbeitet, wo in der Zwischenzeit schon mehrere Anlagen in Betrieb sind; zudem ist das Prinzip der Energienutzung von Seewasser nicht neu (siehe Box). Trotzdem wird noch immer meist konventionell geheizt und gekühlt. Alfred Wüest begründet dies mit der Wirtschaftlichkeit: «Die ökologischen Argumente und die Zeit sprechen allerdings auf längere Sicht für die Nutzung von Seewasser.»
Für den Kanton Luzern als Mit-Auftraggeber der Studie ist das Ergebnis eine Bestätigung des Potenzials, wie Werner Göggel, Abteilungsleiter Gewässer beim Kanton Luzern, erklärt. Mit der Studie der Eawag lägen Beurteilungsgrundlagen für entsprechende Projekte vor. Laut Göggel gibt es alleine im Luzerner Teil des Vierwaldstättersees rund 30 konzessionierte Anlagen. Dazu kommen noch einzelne an Sempacher- und Baldeggersee.
Das Ergebnis der Studie kommt für Bernhard Etienne nicht überraschend. Der Ingenieur aus Luzern ist zusammen mit Bauunternehmer Bruno Amberg Initiant eines Projekts, welches Seewasser aus dem Horwer Becken als Quelle für die Energieversorgung (Wärme und Kälte) im Gebiet Luzern Süd nutzt. So soll auch der geplante Stadtteil Horw-Mitte mit 520 Wohnungen und 1700 Arbeitsplätzen das Seewasser nutzen. Die eigens gegründete Seenergy Horw AG wird das Wasser aus 35 Metern Tiefe des Horwer Seebeckens pumpen und Überbauungen in Luzern Süd mit Energie zum Heizen, Wärmen und Kühlen versorgen.
Schon vor über einem Jahr hat Seenergy die Experten der Eawag zugezogen, welche den hohen Nutzen der Anlage bestätigten. Die erforderliche Konzession wurde vor knapp einem Jahr eingereicht, laut Etienne müssten bis zur definitiven Bewilligung nur noch landseitige sowie organisatorisch-betriebliche Fragen geklärt werden, «aber keine technischen», wie Etienne betont. Seenergy rechnet damit, die Konzession im Herbst zu erhalten. Baubeginn wäre 2016, der Betrieb könne Anfang 2017 aufgenommen werden.
Mittlerweile steht laut Etienne zur Diskussion, dass Seenergy dereinst ein noch grösseres Gebiet versorgen könnte, welches auch den südlichen Teil der Stadt Luzern umfasst. Denn technisch sei die Erweiterung jederzeit möglich: «Das Seewasser bildet bis zum Pumpenhaus in Ufernähe einen eigenen Kreislauf.» Im Pumpenhaus werde die Energie auf einen weiteren, geschlossenen Kreislauf mit anderem Wasser übertragen. «Die Leitungen dieses Kreislaufs führen zu den verschiedenen Baufeldern, wo schliesslich mit Wärmepumpen die Warmwasser- und Kühlwasser-Aufbereitung erfolgt.» Diese dezentral organisierte Anlage könne jederzeit ausgedehnt werden.
«Dank der Studie der Eawag und Pionierprojekten wie in Horw werden weitere Seewassernutzungen folgen», ist Etienne überzeugt. Voraussetzung sei eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden und Umweltschutzorganisationen. «Wir hatten keine einzige Beschwerde», so Etienne. Zusätzlichen Anreiz könnten Subventionen schaffen, wie es sie bei anderen nachhaltigen Energien bereits schon gibt. Diese Art der Energiegewinnung sei nämlich nicht weniger umweltfreundlich als andere, sagt Etienne. Erst recht nicht, wenn die für den Betrieb der Wärmepumpen notwendige elektrische Energie durch Fotovoltaik gewonnen wird – so wie das in Horw angedacht ist.
Werner Göggel von der Dienststelle Umwelt und Energie des Kantons Luzern bestätigt, dass die Energiequelle Wasser als solche derzeit nicht gefördert wird. Immerhin finde mit dem Fördergegenstand «Anschluss an Wärmeverbund» bereits heute eine indirekte Seewassernutzungsförderung statt. Die kantonalen Förderprogramme werden das nächste Mal auf den 1. Januar 2017 überarbeitet. «Auf diesen Zeitpunkt hin könnten auch entsprechende kantonale Förderungen aufgegleist werden», erklärt Göggel. «Die Nutzung von Wärme und Kälte aus Seewasser ist als erneuerbare Energie zu fördern. Der Kanton begrüsst entsprechende Projekte.»
Was am Vierwaldstättersee erst vereinzelt vorkommt, ist andernorts schon fest etabliert: das Kühlen und Heizen mittels Seewasser. Ein Beispiel ist der Zugersee. Die Siemens Schweiz AG in Zug nutzt das Seewasser seit vielen Jahren für die Kühlung von Gebäuden und industriellen Prozessen. Mittlerweile ist eine Umnutzung des Siemens-Areals, etwa als Wohnstandort, in Planung. Entsprechend wird das Seewasser zukünftig sowohl zum Heizen als auch zum Kühlen genutzt.
Die Eissportanlagen der Bossard-Arena werden ebenfalls mit Seewasser gekühlt. Die aus der Eisproduktion anfallende Abwärme wird für die Warmwasserproduktion in der Sporthalle, im Hochhaus und in der Überbauung Schutzengel genutzt. In der Stadt Zug ist ein weiterer Energieverbund in Planung, bei dem Seewasser über Leitungen in Energiezentralen zugeführt wird, wo die von den Kunden benötigte Energie – ob Wärme oder Kälte – mittels Wärmepumpen und Wärmetauschern gewonnen wird. Gemäss Peter Keller, Projektleiter Oberflächengewässer beim Kanton Zug, laufen die bestehenden Anlagen seit Jahren weitgehend ohne Probleme. «Der Bedarf nach erneuerbaren Energiequellen wächst stetig. Darum wird auch die Nachfrage nach Seewassernutzungsanlagen immer grösser. Der gewässerökologisch verträgliche Umfang der Nutzung der Wärme- und Kälteenergie der Seen muss genau abgeklärt werden; dies erfolgte beim Zugersee mit Studien der Eawag.»
Die Idee, den See für die Heizung und die Kühlung zu nutzen, ist nicht neu. Ein Beispiel ist der Bürgenstock. Schon seit 1888 besteht dort eine Druckleitung vom See zu den Hotels, wie die Fachzeitschrift «Haustech» berichtet. Für das neue Bürgenstock-Resort wurde die Leitung erneuert. Zusätzlich wurde oberhalb des Resorts ein neues Wasserreservoir gebaut. Von dort gelangt das Wasser in eine unterirdische Energiezentrale, wo es für die Heizung und die Kühlung der Gebäude aufbereitet wird.
Eine der bekanntesten Anlagen ihrer Art ist jene des Badrutts Palace Hotels in St. Moritz. Seit Inbetriebnahme 2007 wird mit Wasser aus dem St.-Moritzer-See nicht nur das Nobelhotel beheizt, sondern auch ein Schulhaus und zwei Mehrfamilienhäuser. Der Heizölverbrauch hat sich seither um jährlich 475 000 Liter und der CO2-Ausstoss um 1200 Tonnen reduziert.
Neben Seen eignen sich auch Flüsse für die thermische Nutzung. Allerdings kühlen sich Flüsse im Winter stark ab, warum sie für die Wärmenutzung nur bedingt geeignet sind. Trotzdem gibt es einzelne Flusswärmepumpen. In Zürich zum Beispiel wird seit 1938 mit Wasser aus der Limmat Wärmeenergie gewonnen.
Wer Seewasser zum Heizen oder Kühlen eines Gebäudes brauchen will, braucht eine Bewilligung. Im Kanton Luzern braucht es für Wasserentnahmen von über 300 Liter pro Minute eine Konzession des Regierungsrats. Dazu kommen Auflagen für Gewässer- und Umweltschutz.