Die grösste Arktisexpedition der Geschichte sorgt derzeit für Schlagzeilen. Sie erinnert Tony Stocklin (73) an zwei abenteuerliche Monate in den 1970er-Jahren.
Es war ein Experiment mit Folgen: Tony Stocklin lehrte seine Kameraden in unwirtlicher Umgebung im Sankt-Lorenz-Golf, wie man «Entlebucher Kafi» macht – und natürlich trinkt. Statt Träsch oder ein anderer Obstschnaps musste Whiskey dafür herhalten. Der Steinhauser erinnert sich auch über 49 Jahre später noch leidvoll an die Konsequenzen: «Als wir am nächsten Tag eine schwere Boje über eine Eisscholle ziehen mussten, ging es mir hundeelend.»
Ob die Forscher, die kürzlich zu einer einjährigen Arktisexpedition aufgebrochen sind, ähnliche Erfahrungen machen werden, muss offenbleiben. Jedenfalls hat die Berichterstattung darüber Tony Stocklin (73) an abenteuerliche zwei Monate in den Jahren 1970 und 1971 erinnert. Er war Teilnehmer an zwei Expeditionen. Während der ersten untersuchten Wissenschaftler in besagtem Gewässer zwischen Neufundland und Festland-Kanada die Wege von Treibeis. Die Ergebnisse sollten dazu dienen, die Schifffahrt dort sicherer zu machen. Die zweite Reise führte Stocklin in die Arktis und fand im Rahmen der Bestrebungen statt, die Nordwestpassage – den kürzeren Seeweg nach Asien – für den Schiffsverkehr ganzjährig offen zu halten.
Die Männer hatten, neben allerlei Messungen und Alltäglichem, das es zu erledigen galt, Zeit für besondere Experimente. So meisselte Stocklin etwa aus einem Ölfass eine Badewanne, wovon eine grossartige Aufnahme zeugt. Und er fand trotz kümmerlicher Ausstattung einen Weg, Brot und «auch mal eine Apfelwähe» herzustellen.
Stocklin war indes nicht als Bäcker, sondern als Techniker engagiert worden, ist im offiziellen Bericht über die erste Expedition zu lesen. Er bewarb sich bei der McGill Universität in Montreal um diese Aufgabe. Zuvor hatte der 24-jährige gelernte Feinmechaniker und Elektronikbegeisterte für eine kleine Firma nahe der kanadischen Grossstadt gearbeitet, was ihn aber nicht glücklich gemacht hatte.
Das war während der beiden Expeditionen ganz anders. «Ich habe mehr gelernt als in der Schule», sagt Stocklin. Über die Natur und ihre Gesetze, die er fast 50 Jahre später noch beschreiben und zeichnerisch veranschaulichen kann, aber auch über sich selbst. Die Einsamkeit machte ihm zu schaffen; und er begann angesichts von Gefahren, an die Existenz von Schutzengeln zu glauben:
«Bei der ersten Expedition beschädigte ein Eisbrocken die Schiffsschraube, woraufhin wir nur mit Glück fortkamen», schildert er.
Die Männer hatten ihr Schiff – wie übrigens auch die Crew der aktuellen Forschungsreise – im Eis festfrieren lassen. Ein Eisbrecher räumte ihnen jeweils den Weg frei. In der Arktis hatten sie nicht einmal mehr ein Schiff: Ein Flugzeug setzte sie ab, woraufhin die Ausgesetzten ein Zeltlager bauten. Wind und extreme Temperaturschwankungen forderten ihnen einiges ab.
Schliesslich wurde es richtig gefährlich: «Das Eis begann zu reissen, dabei bebte es und ein ganz besonderes Geräusch war zu hören», erinnert Stocklin sich. Die Abreise fiel entsprechend hektisch aus. Ein Helikopter wurde zu ihrer Bergung ausgesandt. Doch es bildete sich Nebel, was es dem Piloten erschwerte, sie zu sehen und zu landen. «Als sich endlich eine Möglichkeit ergab, stiegen wir schnell ein und liessen sehr viel Material und Proviant in der Natur zurück. Das hat mich schockiert», sagt der betont umweltbewusst lebende Steinhauser. Hatten die Ergebnisse der damaligen Expeditionen einen Nutzen für die Allgemeinheit? Stocklin winkt ab. «Die meisten waren schon vorher bekannt, wir bestätigten sie eigentlich nur.» Für ihn persönlich bedeuteten die Tage im Eis hingegen eine Horizonterweiterung, an die er sich bis heute erinnert, lebhaft und detailreich.